KriminalstatistikWenn der Polizeichef die Innenminister bremst

Mehr Kriminalität von Menschen ohne deutschen Pass weist die Polizeiliche Kriminalstatistik aus. Doch während die Innenminister:innen bei der Vorstellung des Berichts erwartbare Hardliner-Floskeln klopfen, überrascht der Chef des Bundeskriminalamts mit Einordnungen und Kontext. Ein Kommentar.

Drei Personen halten einen Ausdruck mit einer Handschelle in die Kamera.
Holger Münch, Nancy Faeser und Michael Stübgen. (von links nach rechts) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Metodi Popow

Deutschland ist eines der sichersten Länder der Erde. Daran ändert auch die neue Kriminalstatistik (PDF) nichts. Laut dieser stieg die Kriminalität im Jahr 2023 um etwa 5,5 Prozent auf etwa 5,9 Millionen erfasste Straftaten – ein Wert, den das Land im Jahr 2012 schon hatte. Ohne ausländerrechtliche Verstöße ist die Kriminalität übrigens nur um 4,4 Prozent gestiegen. Aber das sind alles Nebenaspekte einer Debatte, die seit dem Wochenende schon hochgekocht wird.

Gestiegen ist im letzten Jahr nämlich die Zahl der Straftaten, derer Menschen ohne deutschen Pass verdächtigt werden – und zwar um satte 13,5 Prozent. Da jubilieren heimlich mahnen AfD und CDU und andere, die schon immer gerne das Bild vom kriminellen Ausländer zeichnen wollen. Auch Nancy Faeser mit sozialdemokratischem Parteibuch wird bei der Vorstellung der neuen Kriminalstatistik in der Bundespressekonferenz nicht müde zu betonen, dass man jetzt doch besser abschieben könne und dass alle gehen müssten, die sich nicht an die Regeln halten. Ein hartes Durchgreifen des Rechtstaates sei nun angesagt. Ich streiche ein Kästchen auf meiner persönlichen Bullshit-Bingo-Karte ab.

Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Michael Stübgen von der CDU, fordert eine „offene und vorurteilsfreie Debatte“ über Ausländerkriminalität – wobei nicht ganz klar wird, ob er jetzt richtig vom Leder ziehen dürfen will oder keine Vorurteile gegen Ausländer fordert. Jedenfalls sei Deutschland am „Integrationslimit“ und man müsse eine „Migrationsobergrenze“ offen diskutieren. Besser kann man die Zahlen der Statistik nicht instrumentalisieren und die Agenda der AfD bedienen.

Man könnte soviel andere Bemerkungen zu diesen Zahlen haben: Zum Beispiel, dass Ausländer häufiger in den Fokus einer Polizei mit Rassimusproblem geraten und dass die Kriminalstatistik als eine Art Tätigkeitsbericht der Polizei eben auch abbildet, wenn sich die Polizei auf bestimmte Gruppen oder Kriminalitätsfelder stärker konzentriert. Oder dass in den Sammelunterkünften von Geflüchteten die soziale und behördliche Kontrolle viel stärker ist und Polizei von Betreuern eben schnell gerufen wird.

Plötzlich die Stimme der Vernunft

Ganz soweit geht Holger Münch dann nicht. Aber dass es an diesem Tag mit dem Chef des Bundeskriminalamtes ausgerechnet ein Vertreter der Polizei ist, der auf der verbale Bremse tritt, fällt auf. Münch ist zwischen den sich als Hardliner gerierenden Innenminister:innen plötzlich die Stimme der Vernunft, die auf soziale und wirtschaftliche Gründe für Kriminalität aufmerksam macht und der die hohe Inflation des letzten Jahres in Korrelation mit der steigenden Kriminalität sieht.

Er weist darauf hin, dass Integration wichtig ist und dass Regionen mit hohem Ausländeranteil wirtschaftlich stärker sind. Er macht auf den Umstand aufmerksam, dass die Steigerung auch damit zusammenhängt, dass die Gesamtzahl von Menschen ohne deutschen Pass gestiegen sei oder dass die Opfer dieser Kriminalität wiederum oft Menschen ohne deutschen Pass seien. Er verweist auf Bildung, Altersstruktur und sogar auf Gewalterfahrungen, die Geflüchtete und Menschen ohne deutschen Pass machen mussten.

Auf die suggestive Frage der BILD, ob Migration Deutschland unsicherer gemacht habe, ist es auch wieder Münch, der liefert: Diese Gleichung gehe nicht auf, er verweist auf Integration und darauf, dass es keine Hinweise darauf gebe. Kurzum hält er zwischen den einfachen Lösungen und innenpolitischen Dauerfloskeln die Fahne des Kontexts hoch.

Dass am Ende alle drei Vertreter:innen bei der Pressekonferenz mal wieder die Vorratsdatenpeicherung fordern, ist hingegen weniger verblüffend.

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15 Ergänzungen

  1. Finanz- und Steuerdelikte wie Zoll- und Steuerstraftaten fehlen völlig in der PKS. Diese Deliktbereiche werden nicht veröffentlicht, weil sie Bessergestellte und Eliten auf die gleiche Stufe wie Straßenkriminelle stellen würde, und dieser Eindruck würde dann doch das jährliche Ritual der Verkündung stören.

    Wie hoch ist der jährliche Schaden im Bereich der Finanz- und Steuerdelikte doch gleich, und wie intensiv wird die Dunkelfeldforschung da betrieben?

    1. Es geht ja nicht um den Schaden. Die Frage ist, ob die Menschen sich sicher fühlen und ich glaube auch nicht das Zoll und Steuerkriminalität das Sicherheitsgefühl der Menschen beeinträchtigt.

      1. Aber das Sicherheitsgefühl der Menschen wird ja auch durch solche Präsentationen geprägt und was darin erwähnt und nicht erwähnt bzw. unterschiedlich gewichtet und geframed wird.

  2. Eine hohe Polizeipräsenz führt in aller Regel auch zu mehr aufgedeckten und angezeigten Straftaten. Dies gibt aber keine Auskunft darüber, ob die tatsächliche Zahl der Straftaten gestiegen ist – oder lediglich diejenigen, die der Polizei bekannt geworden sind.

  3. Kriminologe Martin Thüne über die Schwächen der Polizeilichen Kriminalstatistik:

    Die PKS ist unvollständig, verzerrt, potenziell manipulierbar und ungewichtet. Die PKS ist unvollständig, weil sie die tatsächliche Kriminalität zuweilen nicht ansatzweise abbildet. Sie ist verzerrt, das heißt, bestimmte Phänomene werden stärker abgebildet als andere. Sie ist potenziell manipulierbar, das heißt, man kann durch bestimmte polizeiliche Maßnahmen die Fallzahlen aktiv beeinflussen und man kann Aufklärungsquoten aktiv beeinflussen und damit ein Bild suggerieren, das mit der Realität nichts zu tun hat.
    https://www.fr.de/politik/kriminalstatistik-2023-faeser-experte-kriminologe-deutschland-nationalitaet-innere-sicherheit-92994860.html

  4. „Die PKS ist lediglich eine Tätigkeitsstatistik der Polizei, in der diese dokumentiert, wie viele Verfahren sie bearbeitet und erledigt“, erklärt der Kriminologe Prof. Singelnstein. „Darin sind keine abgeschlossenen Fälle verzeichnet, sondern nur Verdachtssituationen – und auch das nur aus einer polizeilichen Perspektive.“

    https://www.rnd.de/politik/kriminalstatistiken-falsch-interpretiert-debatte-zu-kriminalitaet-von-nichtdeutschen-MCO7ISK4CFFY3EYHDTA2YVZFZM.html

  5. Die Verkündigung der sogenannten „Kriminalstatistik“ ist ein jährliches wiederkehrendes Ritual, ganz ähnlich dem Groundhog Day, das Berlin zu einem medialen Punxsutawney werden lässt. Während in Punxsutawney ein Murmeltier mit viel Tam-Tam aus dem Zylinder gezogen wird, ist es in Berlin ein Tätigkeitsbericht der Polizei, der doch ein wenig desinformativ als „Kriminalstatistik“ einer Auswahl gutgläubiger Journalisten präsentiert wird. Dazu braucht man Leute, die von statistischen Methoden ziemlich viel von wenig Ahnung haben. Der verheimlichte Zweck des Rituals könnte auch ein Test sein, ob es in diesem Jahr unerwartet Buh-Rufe gibt, oder ob der Statistik-Schmuh weiter zur der Bevölkerung taugt.

    Das Wohl des Ministeriums hängt vom erwünschten Ausgang des Rituals ab: Muss Geld in teure Dunkelfeld-Forschung gesteckt werden, die möglicherweise einer Instrumentalisierung durch die Politik einen Strich durch die Rechnung macht?

    Aus wissenschaftlicher Perspektive könnte Politikberatung folgenden Rat an die Innenministerin geben: Ziehen Sie lieber Insta-tauglich ein Polizei-Maskottchen aus dem Zylinder, anstatt einer Statistik, die ihren Namen kaum verdient.

      1. Frau Faeser demonstriert eindrucksvoll, dass rechtes Geschwurbel kein Alleinstellungsmerkmal der AfD ist. Die „sozial““demokratische“ Anbiederung an „besorgte“ „Bürger“ ist einfach nur widerlich. Unwählbar.

  6. Ich finde es unverantwortlich, dass diverse Pressevertreter die prozentualen Anstiege unreflektiert vergleichen. Klar, die Zahlen stimmen alle, aber man kann sie nicht in Relation setzen, da die prozentuale Veränderung immer auf der jeweiligen Vorjahreszahl basiert. Und je kleiner diese ist, desto höher fällt der Anstieg aus. Sprich je kleiner die betrachtete Gruppe ist, desto höher sind die Zahlen.

    Rechenbeispiel:

    Große Menschengruppe
    2022: 1.000.000 Tatverdächtige
    2023: 1.050.000 Tatverdächtige
    Anstieg: 50.000
    Prozentwert: 5%

    Kleine Menschengruppe
    2022: 100.000 Tatverdächtige
    2023: 150.000 Tatverdächtige
    Anstieg: 50.000
    Prozentwert: 50%

    Dies ergibt einen Unterschied von 45% bei derselben Anzahl von Straftaten. Zusätzlich wäre die Bezugszahl gut, sprich wie viele deutsche bzw. nicht deutsche eigentlich in den Jahren 2022 bzw. 2023 in Deutschland gelebt haben. Und dann ließt man in der Presse sowas wie 50% Anstieg der Straftaten bei Gruppe 2, aber nur 5% bei Gruppe 1. Sowas ist doch nicht seriös.

    Ehrlich gesagt frage ich mich, warum überhaupt die Nicht-Deutschen einzeln aufgelistet werden. Das sieht doch alles stark danach aus, mit Absicht Hetze auslösen zu wollen.

  7. > Münch ist zwischen den sich als Hardliner gerierenden Innenministern plötzlich die Stimme der Vernunft, die auf soziale und wirtschaftliche Gründe für Kriminalität aufmerksam macht und der die hohe Inflation des letzten Jahres in Korrelation mit der steigenden Kriminalität sieht.

    Das klingt als würde er seinen Posten nicht mehr lange innehaben.

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